„Ich sterbe für die Freiheit!“

Robert Blum: Ein tragischer Held

Bild: August Hunger / gemeinfrei

Von Michael C. Bauer

Oft sind die Spuren der Geschichte unscheinbar, auch wenn große Männer sie hinterlassen haben. Eine dieser Spuren, durch die die Vergangenheit wie durch ein kleines Fenster hindurch scheint, findet sich in unserem Grundgesetz. Dort heißt es in Artikel 140: „Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen […] gezwungen werden.“ Ein wichtiges Grundrecht, gerade für Humanistinnen und Humanisten. Wie kam es dazu?

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Es war der 3. Juni des Jahres 1848, als der Verfassungsausschuss der Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt zu seiner 17. Sitzung zusammentrat. Auf der Tagesordnung stand das Verhältnis von Staat und Kirche. Robert Blum, Deputierter aus Sachsen, war zu diesem Zeitpunkt bereits zu einem der Wortführer der gemäßigten Linken avanciert. Stimmgewaltig, mit wallendem rotblondem Bart und wuchtigen Locken galt er als einer der mitreißendsten Redner der Versammlung. In die fein ziselierten Ausführungen der anderen Redner, mal mehr für die eine, mal mehr für die andere Kirche Vorteile herausschlagend, mengte er sich nicht ein. Erst gegen Ende der Debatte ergriff er das Wort, für wenige, aber umso treffendere Bemerkungen. Blum machte geltend, dass den Staat die religiösen Überzeugungen seiner Bürger zunächst einmal gar nichts angingen, einzig habe er die ungehinderte Ausübung oder Nicht-Ausübung eines selbst gewählten Glaubens zu schützen. Doch überall übe die Religion Zwang auf die Bürger aus – den Tauf-, Schul-, Trau- und schließlich Begräbniszwang. Und so formulierte er kurz und bündig seinen Beschlussvorschlag für die neue Reichsverfassung: „Niemand kann zu irgendeiner kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit gezwungen werden.“ Sein Vorschlag wurde angenommen – und definiert nahezu unverändert bis heute ein Grundrecht aller Deutschen.

Ungestillter Bildungshunger

Robert Blum wurde am 10. November 1807 als Sohn eines Fassbinders und einer Bauerntochter in Köln geboren. Durch eine frühe Infektionskrankheit nahmen seine Augen dauerhaft Schaden. Der begabte Junge sollte dennoch eine gute Schulausbildung bei den Jesuiten erhalten. Auf der Ordensschule galt er rasch als der beste Schüler. Doch ein Stipendium für die höhere Schullaufbahn stand nicht zur Verfügung, und so musste er nach der Sexta abgehen. Er begann verschiedene Handwerksberufe, schließlich wurde er Gelbgießer, ein mäßig anspruchsvoller Metallberuf, der ihn nicht sonderlich interessierte. Gleich nach seiner kurzen Gesellenwalz wandte er sich etwas Neuem zu und heuerte als Vertreter für Rüböl-Laternen an. Seinerzeit wurde landauf, landab das Nachtleben der Städte illuminiert, und so wurde Blum auch in diesem ganz handfesten Sinn zu einem der ersten Lichtbringer der modernen Zeiten. Er kam dabei weit herum, doch sein Bildungshunger war noch immer ungestillt. In München und Berlin nahm er als Gasthörer an universitären Vorlesungen teil. Erste literarische Arbeiten entstanden, einige Gedichte wurden veröffentlicht. Die französische Juli-Revolution – Frankreich wieder eine Republik! – und die politische Gärung in Deutschland, der Freiheitskampf der Polen, Burschenschaftler und Hambacher Fest entflammten ihn.

Doch dann fanden die freien Jahre der Wanderschaft abrupt ihr Ende: Das Lampenunternehmen ging Pleite. Blum wandte sich zurück nach Köln, und 1830 wurde der belesene Dilettant beim dortigen Stadttheater angestellt – als Theaterdiener. Nach zwei Jahren folgte er dem Kölner Prinzipal Ringelhardt an dessen neue Wirkstatt, nach Leipzig. Hier entfaltete Blum seine Talente, wirkte wie ein Hansdampf in allen Gassen. Er schrieb eigene Theaterstücke, publizierte Artikel zu Literatur und Politik und gab selbst Zeitschriften und auch Lexika heraus; sein „Theater-Lexikon“ in sieben Bänden wurde zum Standardwerk. Die „Sächsischen Vaterlandsblätter“ erschienen unter seiner Ägide, dann die „Constitutionelle Staatsbürger-Zeitung“, und er produzierte unter dem Titel „Vorwärts!“ ein jährliches Volkstaschenbuch mit Essays, biographischen Porträts, Gedichten und – von ihm selbst beigesteuert – Aufsätzen über Justizirrtümer und Prozessverbrechen. Seine Zielgruppe: das Volk, die freiheitshungrigen Bürger, oftmals die Handwerker und Arbeiter. Seine Themen immer wieder: Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit! Sein auffälliges Talent als Redner und Veranstalter von vaterländisch-literarischen Festveranstaltungen sicherten dem unermüdlichen Vereinsgründer schnell einen prominenten Platz in der Leipziger Öffentlichkeit.

Stadtverordneter mit der höchsten Stimmenzahl

Blums politische Ambitionen waren ab den späten 1830er-Jahren unübersehbar. Seit 1839 gehörte er zum exquisiten „Hallgarten-Kreis“, dem gesamtdeutschen Zentrum der liberalen Opposition. Das entscheidende Datum für seinen Aufstieg auch zum formal legitimierten Führungskreis des Vormärz ist der 12. August 1845. An diesem Tag besuchte der sächsische Prinz Johann, unbeliebt, katholisch, autokratisch, das bereits bürgerlich-unruhige Leipzig. Eine beträchtliche Volksmenge demonstrierte gegen ihn. Soldaten wurden gerufen, sie schossen auf die Demonstranten. Der schon stadtbekannte Blum beruhigte das aufgebrachte Volk. „Verlasst den Boden des Gesetzes nicht!“ rief er ihm donnernd zu. Dann führte er eine erhitzte Versammlung vors Rathaus, in beeindruckender Stille, und verkündete seine Forderungen, die auch diejenigen der Menge waren: Austausch der Garnison, Untersuchungskommission. Tags drauf sprach er die Trauerrede für die Gefallenen, viele Tausende hörten zu. Im Herbst darauf waren Stadtverordnetenwahlen: Blum erhielt die höchste Stimmzahl aller Bewerber.

Jetzt kamen die Dinge für Blum auch beruflich in Bewegung. Er folgte seinem Unternehmernaturell, die „Verlagsbuchhandlung Blum & Co.“ wurde gegründet. Doch blieb ihm dafür nur wenig Zeit. 1848 zog er als Leipziger Abgeordneter ins Parlament ein. Im Gepäck hatte er übrigens auch eine ausdrückliche Vollmacht der jüdischen Gemeinde Leipzigs, in der sie ihn ermächtigte, im Parlament für die Gemeinde zu sprechen und sich für umfassende Glaubensfreiheit einzusetzen.

Hier nun ist Blums Bedeutung für die religiöse Reformbewegung des Vormärz nachzutragen, die auch die historische Wurzel der Humanistischen Vereinigung ist. Diese Bewegung war vor allem mit der Person des schlesischen Pfarrers Johannes Ronge verbunden. Dessen offener Brief an den Trierer Bischof Arnoldi wurde 1842 zuerst von Blums Zeitung, den „Sächsischen Vaterlandsblättern“, abgedruckt und fand rasch massenhafte Verbreitung. Er avancierte sogar zu einem, wenn nicht zu dem meistverbreiteten Flugblatt des Vormärz. In diesem „Sendschreiben“ geißelte der bis dahin unbekannte katholische Geistliche den Popanz, der um den „Trierer Rock“, eine Reliquie zweifelhaften Ursprungs, getrieben wurde. Ronges Kritik schlug ein wie ein Bombe und erschütterte das religiös-politische Gefüge im gesamten Deutschen Bund. In der Folge gründeten sich überall im Reich deutschkatholische und freie Gemeinden. Sie fanden ihre Anhänger*innen vor allem in der Arbeiterschaft und im Kleinbürgertum, oft mit einem Akademiker an der Spitze. „Deutschkatholisch“ klingt heute fremd in den Ohren. Damals allerdings betonte es die Unabhängigkeit von „Rom“, und die Freiheitsziele einer geeinten und demokratischen deutschen Nation. Gemeinsam mit Ronge organisierte Blum in Sachsen diesen Deutschkatholizismus und stürzte sich in die örtliche Gemeindearbeit. Er übernahm dabei sogar Pfarreraufgaben, predigte, hielt Leichenreden, nahm Trauungen vor. „Kirchenvater“ nannte er sich scherzhaft, die ersten Blum-Portraits wurden verkauft. 1847 gab er ein „Gebet- und Gesangbuch für deutsch-katholische Christen“ mit Choralmelodien heraus. Sein Bemühen, der neuen Bewegung eine Form zu geben, ist nicht zu übersehen. Und in der Tat lag die eigentliche Pointe des Deutschkatholizismus weniger in seinen religiösen Inhalten im engeren Sinne. Viel mehr als um konfessionelle Nuancen ging es um die Freiheit schlechthin, im Glauben und auch in der Organisation der Gemeinde. 1846 ließ Blum in seinem „Vorwärts“ schreiben, die religiöse Reformbewegung habe „sowohl ein nationales als ein demokratisches Moment“, sie sei „die Verinnerung des Freiheitskrieges“ und leite „eine gründliche Befreiung des deutschen Volkes nicht nur von den Resten der Fremdherrschaft, sondern auch von seiner Selbstentfremdung ein.“ Dies spiegle sich in der Verfasstheit der Gemeinden wider: Denn deutschkatholische Gemeinden hätten notwendigerweise eine „demokratische Verfassung“, und die ermöglichte gleiche Rechte für alle Mitglieder, Männer wie Frauen. Seinerzeit geradezu unerhört.

Durch Streitereien zermürbt

Der Linkshegelianer Bruno Bauer war es, der als einer der ersten auf die geistigen Zusammenhänge zwischen der freireligiösen „Reformation“ und dem späteren Scheitern des Paulskirchen-Parlaments aufmerksam machte. Bauer, nicht ohne Ärger, sah in beidem den gleichen verhängnisvollen Geist wirken: die Unentschlossenheit, den mangelnden Willen vom Räsonieren zur Tat zu schreiten, das Zurückschrecken vor notwendigen Konsequenzen. Ebenso wenig wie für Bauer die „Reformatoren“ bereit waren, den Boden des christlichen Glaubens entschlossen zu verlassen und zu einer wirklich nur auf der Vernunft gegründeten Weltanschauung zu gelangen und von dort aus die Befreiung der Gemeindemitglieder nicht nur aus religiösen Schranken, sondern auch zu mündigen Staatsbürgern einer demokratischen Republik zu bewerkstelligen, so wenig wollte sich das Frankfurter Parlament an die Spitze der Volksbewegung für echte Demokratie setzen und die allerorts gärende Hefe in seinem Sinne ausnutzen. Auf der Klaviatur des Umsturzes wollte man hier wie dort nicht spielen – oder vermochte es nicht.

So sah es im Herbst des Jahres 1848 wohl auch Robert Blum. Verschlissen und zermürbt von kleinlichen Streitereien versuchte der Abgeordnete Blum in der Paulskirche seine Ideale durchzusetzen. Dabei ging es nur wenig, sehr wenig voran. Weitsichtiger als andere ahnte er damals bereits das Scheitern der Revolution. Da kam ein Hilferuf aus der Stadt Wien gerade recht. Dort hat man das Reden hinter sich gelassen und ist zur Tat geschritten, zur offenen Rebellion. Die Paulskirche sollte und wollte eine Delegation an die Donau schicken, in diplomatischer Mission, aber auch um ihre Unterstützung zumindest symbolisch zu zeigen. Blum war sofort dabei und ergriff so die Chance, aus dem mühevollen Gehäuse der Parlamentsarbeit auszubrechen – und sich durch die Reise auch ein wenig von ihr zu erholen.

Blum verdient „Alles“

Im 17. Oktober traf er in Wien ein. Die revolutionäre Stimmung begeisterte ihn, so hätte er es sich auch anderswo gewünscht. Doch schon drei Tage darauf war die Libertinage vorbei. Kaiserliches Militär war vor der Stadt in Stellung gegangen, geführt vom Feldmarschall Alfred Fürst zu Windischgrätz. Am 22. Oktober verhing dieser den Belagerungszustand über Wien, die Stimmung in der Stadt erhitzte sich. Dann verlangte der Fürst die Unterwerfung. Undenkbar! Am 25. Oktober traten Blum und sein parlamentarischer Mitdelegierter, der Abgeordnete Julius Fröbel, als Hauptleute in die Wiener Nationalgarde ein. Nun herrschte offener Bürgerkrieg. Drei Tage verteidigte Blum nicht ohne Geschick und militärischen Erfolg eine strategisch wichtige Brücke, dann war es vorbei. Wien kapitulierte. Die Frankfurter Delegation bereitete sich auf die Abreise vor, meinte sich im Schutz der parlamentarischen Immunität. Am 4. November schrieb Blum – wie auch Fröbel – an den Stadtkommandanten, man möge ihm Ausreisepapiere zukommen lassen. Ein naiver Fehler – da erst wurden sie auf ihn aufmerksam, er wurde sofort verhaftet. Windischgrätz wollte ihn zunächst einfach abschieben, aber sein Schwager Schwarzenberg, designierter Ministerpräsident, erkannte die unverhoffte Chance, ein Zeichen zu setzen gegen die „Demokratenpest“. So schrieb Schwarzenberg nach Wien: Blum „verdient Alles“. Bevor die in verzweifelter Eile gesandten Depeschen des Parlaments den Hof erreichen konnten, war Blums Schicksal besiegelt.

Robert Blum starb am 9. November 1848. Er wurde auf der Wiener Brigittenau standrechtlich erschossen, will heißen: ermordet. Das Schnellgericht hatte nicht viel auf eine solche Petitesse wie parlamentarische Immunität gegeben. Politische Bedenken – schließlich hatte man einen prominenten und einflussreichen Mann vor sich – wurden zwar erwogen, aber rasch beiseite geschoben. Nicht einmal die Ehre eines ordentlichen Begräbnisses haben sie ihm erwiesen; sein Leichnam wurde namenlos verscharrt.

Blums letzte Worte sollen gewesen sein: „Ich sterbe für die Freiheit. Möge das Vaterland meiner Eingedenk sein.“ Nach einer langen Schrecksekunde war es das auch. Man konnte die Schandtat zunächst nicht glauben. „So weit würden sie nicht gehen!“, hieß es allerorten. Doch die politische Reaktion war durchaus so weit gegangen, auch – und vielleicht vor allem – um dem verhassten Parlament und den Demokraten insgesamt zu zeigen, dass die reale Macht allein bei den herrschenden Adelshäusern und ihren Regierungen war, und nicht etwa mit den Volksvertretern in Frankfurt. Insofern markiert die Ermordung Blums symbolisch das Scheitern der deutschen Revolution im Ganzen. Einige Zeit lebte Blum noch als Erinnerungsikone, als „Märtyrer“ fort. Herzzerreißend noch heute der Abschiedsbrief an seine Familie, er hinterließ seine Frau und vier Kinder. Was half es da, dass eine Sammlung zu deren Unterstützung gewaltige Summen erbrachte. Sein Konterfei oder Szenen aus seinem Leben und Sterben zierten Pfeifen, Standuhren, Porzellanteller. Porträts wurden mit schwarz-rot-goldenem Trauerflor verkauft, Gedichte besangen sein Ende, am bekanntesten wohl das des großen Revolutionsdichters Ferdinand Freiligrath. Heute tragen Schulen und – seit dem 9. November 2020 – ein Saal im Schloss Bellevue seinen Namen.

Letzte Konsequenz: bewaffneter Kampf

Was bleibt? Die Tragödie. Blum, der eigentlich nichts falsch gemacht hat, hatte zu büßen für die Lauheit der anderen. Auch er selbst war eher ein Mann des Ausgleichs, nicht der gewaltsamen Entscheidung; der Debatte, nicht der Barrikaden. Doch mit den Mitteln des schnell verhallenden Wortes und eines unvollkommenen Rechts ließen sich keine Regime stürzen, die im vollen Saft ihrer militärisch gesicherten, dynastischen Arroganz standen. Erst am Schluss – den er freilich nicht als solchen ahnen konnte – zog Blum auch die letzte Konsequenz und wählte den bewaffneten Kampf gegen die verhasste Unterdrückung. Das versöhnte postum die kommunistisch-sozialistischen Revolutionäre der Jahrhundertmitte mit ihm. Was allerdings auch für Otto von Bismarck gilt, der Blum später in nun wirklich atemberaubender Unverschämtheit als einen seiner Fraktion ausgeben wollte. Schließlich nahm sich die Arbeiterbewegung seiner an. Kein geringerer als Wilhelm Liebknecht gliederte ihn mit einer Biographie und der Herausgabe seiner Schriften in die Frühgeschichte der Sozialdemokratie ein – zu Recht, wie es scheint, denn in seinem Wirken und Denken finden sich wichtige Elemente des sozialen und demokratischen Politikverständnisses. Das freilich braucht es, um wirken zu können, andere Voraussetzungen als Blum sie vorfinden durfte. Dabei diese zu schaffen, starb er. Wir Heutigen stehen auch auf seinen Schultern.

Hinweis

Bewerbungen für den Förderbeginn zum Wintersemester 2025/26 sind vom 1. Januar bis zum 31. März 2025 möglich.